Freilerner – eine Diskussion um den Begriff

Als wir 2012 die Freilerner-Solidargemeinschaft e.V. gegründet haben, hat sich die Gründungsgruppe für den Begriff „Freilerner“ im Namen entschieden. Die Auswahl an Begriffen war nicht sehr groß und wir wollten keine englischen Begriffe wie „Home Education“, „Unschooling“ oder gar „Homeschooling“ verwenden. Lange habe ich mich mit diesem Begriff nicht richtig wohl gefühlt. Die Diskussion über den Begriff in der Freilerner-Zeitschrift 2017 hat bei mir zu einer neuen intensiven Auseinandersetzung mit dem Begriff geführt und interessanterweise zu einer Änderung meiner eigenen Einstellung dazu.

Ich lehne englische Begriffe nicht per se ab, benutze diese hin und wieder auch selbst, dennoch fand ich alle englischen Entsprechungen schon damals nicht passend. Die vor allem in England benutzten Bezeichnungen  „Home Education“,„Home based Education“ oder „Autonomous Education“ fände ich grundsätzlich sinnvoll, sie werden aber hierzulande nicht benutzt und sind daher eher unbekannt. Und wenn man sowieso einen Begriff mit Leben füllen muss, weil das Gegenüber einen nicht versteht, dann finde ich, ist es sinnvoller, gleich einen deutschen Begriff zu verwenden. Leider ist es sehr schwierig, für die Begriffe angemessene deutsche Übersetzungen zu finden, vor allem weil das Wort „Education“ sich nicht eindeutig übersetzen lässt.

„Homeschooling“, der Begriff, der hier in Deutschland sicher am häufigsten benutzt wird, wird in Amerika als Sammelbegriff für alle benutzt, die ohne Schule lernen, auch wenn der Begriff sicher ursprünglich auch dort vor allem Schule zu Hause meinte. In Deutschland ist die gemeinte Bedeutung unterschiedlich, mal wird er als Überbegriff mit der Bedeutung verwendet, die in Amerika aktuell ist, mal versteht man darunter vor allem „Schule zu Hause“, wohl auch weil der Begriff sich so gut mit dem deutschen Wort „Hausunterricht“ übersetzen lässt, bei dem wahrscheinlich viele Freilerner, ähnlich wie ich, Bauchschmerzen bekommen. Zu schnell kommen mir da Assoziationen von „Schulräumen“ zu Hause oder „Mathematik am Küchentisch“, letzteres ja ein beliebter Titel von Zeitschriftenartikeln. In der juristischen und pädagogischen Fachdiskussion wurde lange Zeit ausschließlich der Begriff „Homeschooling“ verwendet, was sich aber – wahrscheinlich auch durch die von der Freilerner-Solidargemeinschaft durchgeführten Kolloquien – langsam ändert.

Bei „Unschooling“ gefällt mir der Bestandteil „schooling“ nicht. Schule wird hier negiert, aber durch die Wortwahl wird Schule hier doch wieder mit Bildung assoziiert und lässt meines Erachtens wenig Spielraum dafür, Bildung neu zu denken. Auch wenn klar ist, dass hier kein schulischer Unterricht stattfindet, entsteht da so eine Leere. Ja, wenn keine Schule besucht wird – wie wird denn dann gelernt? Der Schluss ist dann häufig: wenn kein schulischer Unterricht stattfindet, dann wird nichts gelernt. Durch die Ablehnung von Schule im Begriff entsteht bei vielen auch der Eindruck, Bildung würde gänzlich ablehnt.

Auch wenn Freilernern hin und wieder ebenfalls unterstellt wird, dass sie nichts lernen, ist dies für mich bei diesem Begriff etwas anderes. Der Begriff selbst ist in meinen Augen sehr offen und hat eine positive Bedeutung. In meinen Überlegungen zu diesem Begriff wurde mir klar, dass mich bisher die große Offenheit gestört hat. Ich fand es schwierig, dass der Begriff nicht klarer festlegt, wer damit gemeint ist. Meine inneren Schubladen wollten gerne eine klar umrissene Definition, zu der ich mich persönlich dann dazugehörig fühlen kann oder nicht.

Dies hat sicher auch mit unserer eigenen Freilernergeschichte zu tun. Als unsere Söhne 2001 mit Freilernen anfingen, hatte noch niemand hier in Deutschland von Unschooling, dem Begriff, den wir damals benutzten, gehört. Keiner konnte sich vorstellen, wie unsere Söhne sich bildeten. Damals wünschte ich mir einen Begriff, der den Menschen eben in einem Begriff deutlich macht, wie unsere Bildung aussieht und mich nicht ständig in Erklärungsnot geraten lässt, war dies doch für mich damals noch viel schwieriger zu erklären, als es heute ist. Wichtig war mir aber nicht nur die Beschreibung der Bildung, sondern auch die Abgrenzung von anderen, den Homeschoolern, denjenigen die Schule zu Hause machen. Ja, ich gebe es zu, ich war da zeitweise auch der Meinung, dass unser Weg der beste Bildungsweg der Welt ist und eigentlich alle anderen diesen Weg auch gehen sollten und konnte da auch ziemlich missionarisch werden.

Nach gefühlt unendlich vielen Debatten bei Freilernertreffen über die richtige Art und Weise der Bildungspraxis und dem richtigen Begriff dafür, bin ich davon abgekommen, eine feste Definition für die richtige Art und Weise der Bildungsausübung haben zu wollen. Bei der Auseinandersetzung über die Begrifflichkeiten habe ich festgestellt, dass ich es sogar begrüße, hier einen Begriff zu haben, der eben nicht eindeutig festlegt und damit bestimmt, was richtig ist. Dies führt fast automatisch zu Ab- und Ausgrenzung, da es damit auch festlegt, was richtig und was falsch ist.

Richtig und falsch sind für mich aber mehr mit Schule verbunden, und sollten in meinen Augen mit Freilernen nichts zu tun haben. Es geht schlussendlich nicht um die Praxis des Lernens. Es geht darum, ob der junge Mensch respektiert wird, ernst genommen wird, die Bildung selbst bestimmen kann oder zumindest mitbestimmen darf. Es geht um sein Selbstbestimmungsrecht.

Die grundgesetzlich verankerten Rechte gelten natürlich für alle Menschen, im Prinzip auch für junge Menschen unter 18 Jahren. Das Selbstbestimmungsrecht wird allerdings durch das Erziehungsrecht der Eltern stark eingeschränkt. Für junge Menschen besteht „Autonomie unter Vorbehalt“, Eltern wird, bis ihre Kinder 18 Jahre alt sind, das letzte Wort zugestanden. Daher sind auch in Bezug auf die Bildung die Eltern diejenigen, die bestimmen, welcher Bildungsweg gewählt wird. Auch diese haben nur eine eingeschränkte Wahl, wenn junge Menschen ins schulpflichtige Alter gekommen sind, sie können zwischen verschiedenen Schultypen wählen, aber ein Bildungsweg ohne Schule, gar von den Kindern selbstbestimmt, steht auch für sie nicht zur Wahl.

Über Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsrechte junger Menschen wird in unserer Gesellschaft zwar diskutiert, aber meist nur beschränkt auf wenige Bereiche wie z.B. beim Wahlrecht oder im Bereich gesundheitlicher Maßnahmen bei schwerkranken Kindern und Jugendlichen. Eltern sind zwar angehalten, die Entscheidungen und Meinungen ihrer Töchter und Söhne anzuerkennen und zu berücksichtigen. Dies hängt aber natürlich bei jeder Familie davon ab, welche Einstellung die Eltern in diesem Bereich haben.

Die Entscheidungen und Meinungen junger Menschen ernst zu nehmen, ist allerdings auch für diejenigen, die sich in diesem Bereich schon Gedanken gemacht haben, nicht immer einfach. Haben doch fast alle Eltern selbst in ihrer Kindheit einen paternalistischen Erziehungsstil mitbekommen und machen sich durch den Umgang mit ihren Kindern auf den Weg, eine eigene Haltung zu entwickeln und neue Umgangsformen auszuprobieren, bis diese sich als stimmig erweisen.

Alle Eltern, die mit ihren Töchtern und Söhnen zusammen einen Bildungsweg ohne Schule starten, sind diesbezüglich in ihrer ganz eigenen Situation. In vielen Fällen ist der Selbstbestimmungsaspekt nicht der ausschlaggebende Punkt für die Wahl dieses Weges, wie die folgende sicher unvollständige Beschreibung zeigt. Da gibt es:

Eltern, die Freiheit in der Bildung für ihre Kinder wollen, die sie natürlich lernen lassen wollen, ohne den schulisch vorgegebenen Rahmen. Oft haben sie eine solche Entscheidung schon vor der Einschulung getroffen.

Eltern, deren Töchter und Söhne im Laufe ihrer Schulzeit die schulische Bildung verweigern und klar NEIN dazu sagen, die sich aber bisher keine Gedanken über Alternativen zur schulischen Bildung gemacht haben.

Junge Menschen, die in der Schule krank wurden, denen das schulische System nicht gerecht wurde, die überfordert oder unterfordert waren, oder gemobbt wurden. Bei diesen steht der Gedanke an die ausweglose schulische Situation im Vordergrund. Gedanken an Alternativen können aufgrund der Situation gar nicht gemacht werden, da das Umgehen mit der schulischen Situation alle Energie braucht.

Familien wie unsere, denen die Selbstbestimmung ihrer Kinder in allen Lebensbereichen im Laufe des Zusammenlebens sehr wichtig geworden ist, und für die die Selbstbestimmung ihrer Töchter und Söhne in der Bildung natürlicherweise ein weiterer Aspekt ist, der ernst genommen werden muss, auch wenn dies dann ungewöhnliche Wege bedeutet.

Schaue ich mir die Familien mit ihren sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen und Umgangsstilen an, wird deutlich: Abgrenzungen oder Ausgrenzungen in diesem Bereich vorzunehmen, wird weder den Menschen noch der Sache gerecht.

Ein Aha-Erlebnis hatte ich vor Jahren bei der Lektüre des Buches „Bildung zu Hause – eine sinnvolle Alternative“ von Alan Thomas. Darin wurde sehr deutlich, dass die Bildungspraxis zu Hause nichts Statisches ist. Viele Familien gaben an, sie hätten mit „Schule zu Hause“ angefangen, einfach, weil sie nichts anderes kannten. Der Großteil hat das dann aber mehr oder weniger schnell wieder aufgegeben und ist zu informellen und non-formalen Lernformen übergegangen. Vielen war es zu anstrengend, jeden Tag Unterricht zu machen, es wurde als sehr mühsam erlebt, das eigene Kind zu unterrichten und zu merken, dass dieses nur gelangweilt war. Im Gegensatz dazu konnten alle Eltern beobachten, wie schnell die Kinder lernten, wenn sie sich mit dem beschäftigten, was sie interessierte. Mein Eindruck nach dem Lesen des Buches, dass es bei Freilernerfamilien im Laufe ihrer Freilernerpraxis eine Tendenz zu informellem Lernen gibt, wurde durch die Erfahrungen der letzten 10 Jahre in meiner beruflichen Praxis bestätigt.

Begrifflich enge Festlegungen vorzunehmen, mag es einfacher machen, die Menschen einzuordnen, aber bei Freilernern ist dies ein Ding der Unmöglichkeit, mal ganz davon abgesehen, wer würde für sich in Anspruch nehmen, zu bestimmen, was denn „frei sich bilden“, „sich selbstbestimmt bilden“, „Unschooling“ oder „Freilernen“ genau bedeutet. Die Uneindeutigkeit des Begriffs „Freilernen“ lässt den Familien den Freiraum, in das Leben und die Bildung hineinzuwachsen, die für sie stimmig ist und lässt für viele ein Dazugehörigkeitsgefühl zu.

Und nicht ganz unwesentlich: Die Vielfalt der der Lebensweisen von Freilernerfamilien und ihrer Bildungspraxis hat den Vorteil, diese Menschen als Gruppe nicht mehr auf einige wenige Merkmale festzulegen, wie z.B. „Das sind nur Familien mit viel Geld!“, „Das sind religiöse Fanatiker!“ oder „Das sind esoterische Spinner!“. Ja, all diese Menschen gibt es wahrscheinlich auch unter den Freilernern, genauso wie unter den Familien, die ihre Kinder zur Schule schicken, aber der größte Teil sind ganz normale „Durchschnittsmenschen“. Wäre Bildung ohne Schule in Deutschland erlaubt und anerkannt, dann gäbe es bei den Freilernern einen ähnlichen Querschnitt der Gesellschaft, wie es Mike Fortune-Wood für Großbritannien in seiner Studie „The Face of Home-Based Education 2: Numbers, Support & Special Needs“ herausgefunden hat.