Stellungnahme zum Artikel „Kampf gegen Bildung“
Sehr geehrte Frau Röpke, sehr geehrte Frau Maier,
ich nehme Bezug zu Ihrem Artikel vom 20. April 2023 „Kampf gegen Bildung“, 3. Teil der Reihe über die Anastasia Bewegung auf der Webseite „Endstation Rechts“.
https://www.endstation-rechts.de/news/kampf-gegen-bildung
Ich teile Ihre Besorgnis über die wachsenden Gruppen von staatsleugnenden und völkisch nationalistischen Gruppen in Deutschland. Ich nehme schon seit Vor-Corona-Zeiten wahr, dass diese Gruppen auch innerhalb der „Freilerner“-Szene (mehr zu diesem Begriff unten) immer größer werden und auch meines Erachtens ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, nicht nur als Journalisten, sondern auch innerhalb der Freilernerszene. Darum war ich auch froh, dass das Septré-Festival (ehemals Schulfrei Festival, dessen Mitbegründerin ich bin) im September 2023 gleich zwei Vorträge zu diesem Thema organisiert hatte, einen von Lou Kern zur Anastasia Bewegung und einen weiteren von Ihrem Kollegen Andreas Speit.
Ich verstehe Ihren Artikel allerdings so, als ob Sie die Freilerner als homogene Gruppe wahrnehmen, die als komplette Gruppe in Richtung rechts driften. Dies finde ich bestürzend, da es viele Menschen, junge Menschen und ihre Familien, diskriminiert, die hier mit einer Ideologie in Verbindung gebracht werden, der sie nicht angehören und die sie ablehnen. Meiner Erfahrung nach sind die Freilerner keine homogene Gruppe. Es gibt verschiedene Strömungen, leider auch diejenigen, die sich diesen Gruppen wie der Anastasia Bewegung anschließen oder sogar daraus kommen – aber eben auch ganz andere.
Ich hätte mir hier eine differenziertere Darstellung gewünscht. Meiner Einschätzung nach ist die Gefahr einer solchen Darstellung, dass sich die betroffenen Menschen, die sich von unseren staatlichen Organen nicht verstanden und nicht ernst genommen fühlen, denen auch nicht zugehört wird, solchen Gruppen anschließen, die Sie und ich als gefährlich betrachten. Denn gerade diese Gruppen haben ausgefeilte Strategien, Menschen und Gruppen zu gewinnen, wie Ihr Kollege Andreas Speit in seinem aufklärenden Vortrag auf dem Septré-Festival im September 2022 geschildert hat.
Reichsbürger, die Anastasia Bewegung und andere staatsleugnerische Gruppen gab es schon vor Corona, trotz Schule. Die Frage ist ja, warum sich Menschen auch aus der Mitte der Gesellschaft diesen Bewegungen zuwenden und warum gerade auch unter den Freilernern viele Familien sich in diese Richtung begeben.
Begrifflichkeiten aus dem Freilernerbereich: „Freilerner“ und „selbstbestimmte Bildung“
Meine Beobachtung ist, dass für die verschiedenen rechten Gruppierungen die Freilernerszene in den Fokus gerückt ist. Die Begrifflichkeiten wie z.B. „Freilerner“ oder „selbstbestimmte Bildung“ wurden übernommen und vereinnahmt, wie Sie dies auch so treffend von Telegram zitieren. Begriffe wie „Selbstbestimmte Bildung“, bei denen der Fokus nach meinem Verständnis auf dem jungen Menschen selbst liegt, bekommen hier plötzlich durch den ideologischen Hintergrund eine völlig andere Bedeutung. Der junge Mensch ist auf jeden Fall nicht mehr im Mittelpunkt. Auch dies kommt in ihrem Artikel klar heraus, denn die jungen Menschen selbst werden hier objekthaft beschrieben. Sie beschreiben in meinen Augen sehr deutlich, wie die Eltern diese die Begrifflichkeiten jetzt benutzen und meiner Auffassung nach missbrauchen. Dort wird „Selbstbestimmte Bildung“ vorwiegend mit Lerngruppen abseits vom Staat in Verbindung gebracht, um so frei wie möglich von ihrer Meinung nach „staatlicher Ideologie“ zu sein.
Wenn ich den Fokus auf den jungen Menschen selbst lege, dann steht dieser mit seiner Entscheidungsmacht im Mittelpunkt und er selbst entscheidet, wie er sich bilden will. Das kann bedeuten, dass der junge Mensch ohne Schule lernt, aber genauso, dass er mit Schule lernt, wenn er sich entscheidet, diese zu besuchen.
Eingehen will ich auch auf den Begriff „Freilernen“. Dieser ist eher vage und lässt mehrere Bedeutungen zu. Für mich ist es hier ebenfalls so, dass der junge Mensch die Freiheit hat, über seine Bildung selbst zu bestimmen und in dieser Hinsicht frei zu entscheiden. Aber viele haben auch schon in der Vergangenheit den Begriff so interpretiert, dass dieser alle Formen von Homeschooling enthält, also Bildung „frei von staatlichem Einfluss“ bedeutet. Letzteres läuft daraus hinaus, dass die Eltern entscheiden, wie und wo die Bildung abläuft. Sollten Eltern dann entscheiden, dass ihr Kind auf keinen Fall die Schule besuchen darf, aber zu Hause selbstbestimmt lernen können soll, mag der junge Mensch auf den ersten Blick selbstbestimmt sein. In meinen Augen ist er dies nur so lange, wie dies für ihn stimmig ist.
Warum wenden sich viele Freilerner staatsleugnerischen Bewegungen zu
Zurück zu der Frage, warum sich viele Freilernerfamilien diesen Bewegungen zuwenden.
In meinen Augen hat die Corona Situation dies wie ein Sog noch verstärkt. Diese Zeit habe ich als für alle Menschen sehr verunsichernd erlebt und meines Erachtens hat unsere Regierung leider durch ihre ständig veränderten und zum Teil auch in meinen Augen nicht nachvollziehbaren Maßnahmen, bedingt durch ihre eigene Unsicherheit mit dieser Corona Situation, nicht dazu beigetragen, die Verunsicherung abzubauen. Dazu muss ich erstmal weiter ausholen.
Was erleben Familien, wenn das Kind NEIN zur Schule sagt
Wie ich es in meinem Beratungsalltag wahrnehme, sind auch heute immer noch die Hauptgründe für die Wahl des Bildungswegs ohne Schule, das NEIN der eigenen Kinder und/oder die Tatsache, dass es diesen in der Schule nicht gut geht. Eltern und teilweise auch die jungen Menschen selbst berichten mir, dass sie nicht ernst genommen werden – in den Gesprächen mit den Behörden und teilweise auch vor Gericht.
Die Schulbesuchspflicht steht über allem. Sie darf augenscheinlich aus Sicht der Schulbehörden bzw. der Gerichte nicht in Frage gestellt werden. Die Gründe der jungen Menschen werden einfach beiseite gewischt. Es wird nicht nach einem Weg gesucht, der für die jungen Menschen stimmig ist. Es geht das immer gleiche „Spiel“ los.
Schule ist in unserer Gesellschaft so normal, dass sich kaum jemand vorstellen kann, dass Bildung und soziale Entwicklung auch anders gelebt werden kann. Wir haben ja alle Schule durchlaufen und auch, wenn wir mit Schule negative Erfahrungen gemacht haben, geht der Gedanke in der Regel immer zur Verbesserung der Schule, aber nicht dahin, auch Bildungswege ohne Schule zu akzeptieren.
Daher wird schulisches Aufwachsen als die Normalität angesehen, an der alle zu messen sind und die für den jungen Menschen unabdingbar ist. Sagt ein junger Mensch NEIN zur Schule, weil es ihm dort nicht gefällt, oder es dort für ihn unerträglich ist, dann wird dieser nicht als gesund und selbstbewusst angesehen, sondern als nicht normal abgestempelt. Eltern wird vermittelt, sie müssten ihrem Kind nur klar genug erklären, dass es in die Schule gehen muss, dann würde das Kind auch gehen, auch ohne Gewalt ausüben zu müssen. Da ist in meinen Augen der erste Denkfehler. Denn zunehmend nehmen Eltern ihre Kinder ernst und sehen sie als gleichwürdig und in vielen Bereichen auch gleichberechtigt an und akzeptieren dieses Nein. Sie sehen auch, dass Schule zumindest im Fall ihres Kindes nicht der ideale Lernort ist. Häufig sehen sie auch, dass sich ihr Kind von einem selbstbewussten, fröhlichen, neugierigen Menschen in ein mutloses Kind verwandelt, was entweder nur noch gelangweilt herumhängt, anhänglich ist, in sich gekehrt ist, oder aggressiv wird. Lassen sich weder die jungen Menschen selbst, noch die Eltern davon abbringen, dass sie einen anderen Weg brauchen und bestehen auf weiteren Gesprächen, dann werden, vor allem wenn die Kinder nicht angemessene Verhaltensweisen entwickelt haben, therapeutische Maßnahmen nahe gelegt. Diese Eltern sehen nicht, dass ihre Kinder therapiebedürftig sind, daher gehen dann die behördlichen Maßnahmen los, wie Bußgelder und Zwangsgelder und/oder familiengerichtliche Verfahren in Bezug auf Kindeswohlgefährdung.
Folgen, wenn das NEIN nicht gehört wird
Viele Eltern hören das NEIN auch nicht und lassen sich auf die von Seiten der Schule geforderten Therapieangebote ein. Häufig bedeutet dies nicht nur eine ambulante Therapie, sondern rasch auch stationäre Maßnahmen. Zu mir kommen immer wieder Eltern, die mir erzählen, dass ihr Kind die verschiedensten Therapien durchlaufen hat und dies nichts verändert hat. Das Kind sagt weiterhin NEIN zum Schulbesuch. Geändert hat sich die Sicht der Eltern. Sie wollen sich nicht mehr auf weitere Maßnahmen einlassen, weil sie den Eindruck haben, dass dies ihrem Kind nicht hilft, ja tatsächlich die Situation häufig noch verschlechtert hat. Wenn diese jungen Menschen zu uns in die Betreuung kommen, dann erlebe ich sie häufig als blockiert oder sogar traumatisiert. Und sie haben häufig verinnerlicht, dass mit ihnen was nicht stimmt. Sie haben den Eindruck, dass sie nicht genügen, es nicht schaffen und nirgendwo richtig reinpassen. Wenn sie diesen Kreislauf nicht durchbrochen bekommen, zieht sich dies durch bis in ihr Erwachsenenleben.
Vergleich der Situation junger Menschen mit der von Erwachsenen
Die jungen Menschen werden damit völlig anders behandelt als Erwachsene, die sich am Arbeitsplatz in einer ähnlichen Situation befinden und den Eindruck haben, dass dies nicht der richtige Ort für sie ist. Erwachsenen wird zugestanden, dass sie ihren Arbeitsplatz selbst wählen können, das heißt unter anderem, dass sie wählen können, in welchen Zusammenhängen sie arbeiten wollen, in einer großen Gruppe (z.B. einem Großraumbüro), allein oder in einer kleinen Gruppe. Sie können auch die Tätigkeit selbst wählen. Und wenn sie gemobbt werden, wird ihnen nicht vermittelt, dass sie lernen müssen, damit umzugehen, sondern sie können sich dagegen sogar wehren und den Mobber anzeigen. Für mich ist es nicht verständlich, warum Menschen in unserem Land aufgrund ihres Alters so unterschiedlich behandelt werden, auch vor dem Hintergrund, dass in vielen Staaten auf der ganzen Welt die Möglichkeit besteht, auch ohne Schulbesuch zu lernen, also einen anderen Bildungsweg zu wählen. Und Studienergebnisse aus diesem Bereich zeigen, dass sowohl die Bildung als auch die soziale Entwicklung nicht darunter leidet. Wenn wir als Gesellschaft kreativ denken würden, dann wären wahrscheinlich auch noch weitere Bildungswege möglich.
Änderung durch die Pandemiesituation
Die Coronasituation hat bei vielen Familien diesen Gedanken „Schule als Norm“ quasi aufgehoben. Kaum eine Familie konnte sich vorher Bildung ohne Schule vorstellen. Die pandemische Situation mit dem langen Distanzlernen im Lockdown hat dazu beigetragen, dass viele junge Menschen und ihre Eltern gesehen haben, dass Bildung von zu Hause aus eine Alternative sein kann. Es gab sicherlich viele Kinder, denen der Schulbesuch gefehlt hat und denen das Distanzlernen eher geschadet hat – andererseits gab es auch einen nicht zu vernachlässigenden Anteil von Kindern, für die das Distanzlernen anstelle des Schulbesuchs entlastend und befreiend war. Viele Kinder und Eltern haben gedacht, dass dies auch nach dem Lockdown weitergehen kann. Aus der Sicht der jungen Menschen finde ich das auch durchaus nachvollziehbar. Warum soll etwas, was für einen so langen Zeitraum möglich war, denn nicht weiterhin möglich sein.
Weigern sich die jungen Menschen weiterhin, dann erleben sie und Ihre Eltern wie auch schon vor Corona, dass ihnen gegenüber keinerlei Verständnis für ihr Anliegen aufgebracht wird. Seit dem Ende des Lockdowns nehme ich wahr, dass die Behörden besonders restriktiv gegen Familien vorgehen, mit zum Teil hohen Bußgeldern und Zwangsgeldern und raschen familiengerichtlichen Auseinandersetzungen. Mir ist auch häufig berichtet worden, dass ihnen sofort von Schule und den anderen Ämtern unterstellt wurde, dass sie Querdenker seien.
Fehler der Behörden
Die Querdenker waren in meinen Augen ein Sammelbecken für Menschen mit den verschiedensten Ausrichtungen. Viele Menschen haben an den Demonstrationen teilgenommen, weil sie mit einzelnen Maßnahmen nicht einverstanden waren. Nachdem schon unter unseren verschiedensten Regierungsvertretern sowohl im Bund als auch in den Ländern wenig Einigkeit wahrzunehmen war und die Menschen mitbekommen haben, dass schon in den verschiedenen Bundesländern aber auch in den verschiedenen Staaten auf der Welt sehr unterschiedlich mit den Maßnahmen umgegangen wurde, finde ich es schwer nachzuvollziehen, dass Menschen von Behörden rasch in eine Richtung eingeordnet werden und ihr eigentliches Anliegen gar nicht ernst genommen wird. In meinen Augen treiben die Behörden auf diese Weise Menschen noch in die Arme staatsleugnerischer Gruppierungen.
Was würde bei Änderung passieren
Wie Sie in Ihrem Artikel feststellen, gehen viele Familien in den Untergrund und die Kinder werden von offizieller Seite gar nicht mehr gesehen. Dies ist schon seit Jahrzehnten ein Problem. Dies könnte gelöst werden, in dem unsere Landeregierungen vor dem Thema Bildung ohne Schulbesuch nicht mehr die Augen verschließen würden und so tun würden, als ob es das Thema gar nicht gäbe. Es werden immer mehr Familien, die diesen Weg offen in Deutschland gehen und die auch die Maßnahmen nicht davor abschrecken, diesen Weg weiterzugehen. Es ist an der Zeit, dass das Thema von der Politik anerkannt wird und offen Ausnahmen zugelassen werden. Denn dann ist es auch möglich, Regelungen einzuführen, so dass die Familien nicht in den Untergrund gehen müssen. Wenn Familien einer gewissen Kontrolle unterliegen würden, dann würde eine wirkliche Kindeswohlgefährdung rascher auffallen.
Zu meiner eigenen Person
Zum Schluss möchte ich Sie noch darauf aufmerksam machen, dass Ihnen in Bezug auf meine Person Fehler unterlaufen sind. Sie schreiben: „Neben Senkel stellten u.a. der Neurobiologe Gerald Hüther, der Philosoph Bertrand Stern und die Pädagogin Karen Stern die Petition vor. Alle drei treten immer wieder im rechtsoffenen Freilerner-Spektrum bei Kongressen und Veranstaltungen auf.“ Mein Name ist Karen Kern (nicht Stern). Ich habe nicht die Petition vorgestellt, sondern die Petentin durch meinen Vortrag unterstützt, weil ich das Anliegen der Petition – im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen jungen Menschen – grundlegend wichtig finde. Zudem bitte ich Sie um einen Hinweis, in welchen rechtsoffenen Kongressen oder Veranstaltungen ich Ihrer Einschätzung nach aufgetreten bin.
Rezeption der Petition
Schade finde ich, dass die Petition fast nur in den sozialen Medien geteilt wurde und dort überwiegend in Gruppen, in denen auch staatsleugnerische Menschen unterwegs sind. Das Anliegen ist für viele Menschen, vor allem junge Menschen wichtig, denn gerade diese finden sonst in Bezug auf ihren Wunsch nach der Möglichkeit eines anderen Bildungswegs ohne Schulbesuch kein Gehör. Es verwundert mich aber nicht, habe ich doch vor mehreren Jahren in Baden-Württemberg die Erfahrung gemacht, dass dieses Thema sowohl von den meisten Landtagsabgeordneten als auch vom Kultusministerium abgelehnt wurde. Dieses war noch nicht mal bereit, Zahlen offen zu legen, um wieviel junge Menschen und ihre Familien es denn geht. Auch über die verschiedenen Motive für die „Schulverweigerung“ wollten sie nichts hören. Es ist schlicht frustrierend, dass dies nach der Arbeit von über 20 Jahren in diesem Bereich immer noch so ist.
Daher freue ich mich, wenn Sie für einen Austausch offen sind.
Herzliche Grüße
Karen Kern